Gesichter der Erde

Der Blaue Planet

Die Erde, die uns trägt und erhält und alles gibt und wieder nimmt, was wir haben und sind, wie sieht sie denn aus? Was den Menschen als Natur begegnet, die Täler und die Berge, die Weite der Ebenen und die vielfältigen Wege, die das Wasser sich sucht, die Wälder und die Wüsten, das Licht der Sonne und das Licht der Nachtseite, die flüchtigen Wolken, die Geometrie der Felder, die eigenartigen Gestalten der Pflanzen und der Tiere , der Mensch hat noch nicht einmal alles erkannt, was mit ihm da ist.

Und dennoch, es zieht ihn bereits fort, gelockt von seiner rührenden Neugier, getrieben von der Gier nach mehr und nach Macht. Der Mensch verlässt die Erde. Er ist bereits unterwegs zur Milchstrasse, er sieht sich um in der grandiosen Unwirtlichkeit, und er erfährt da vor allem immer wieder eines: seine Einmaligkeit, seine Einsamkeit als Geschöpf in der unermesslichen Weite des Weltenraums. Die Supermächte haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr Wettrüsten über die Biosphäre hinaus ins All erweitert, doch im destruktiven Potential dieses Tuns war die Chance enthalten für einen Augen-Blick, der sich bisher nur träumen liess. Im Jahr 1959 funkte der Satellit «Explorer 6» seine Aufnahmen direkt auf die Bildschirme der Fernsehapparate: Es waren erstmals in der Geschichte der Menschheit Bilder der Erde!

Der schimmernde Planet, Ort des Lebens, Heimat auf Gedeih und Verderb, amorph, verletzlich, einladend. Ein Paradies, zumal aus dieser Höhe verborgen bleibt, was die Menschen plagt. Dennoch ist das Antlitz der Erde, so wie es im Kosmos ausschaut, keine Beschönigung. Es ist echt und ganz einfach zauberhaft. Diese Bilder sind eben erst entstanden, ganz jung sind sie, aber sie werden ihre Wirkung in unseren Köpfen noch entfalten, weil sie uns zeigen, dass wir Gäste sind hier, und die Erde die grösste uns mögliche Sorgfalt wert sein sollte. Ihre Entdeckung ist keineswegs abgeschlossen – und ihr Gesicht verändert sich mit jedem Tag. Gletscher züngeln vor und zurück, Seen entstehen und vergehen, Wind und Wasser gestalten den Fels und formen manchmal scheinbar altbekannte Charakterköpfe. Und selbst im Innern der Erde, dort, wo der Mensch nie lange weilt, warten Gesichter auf uns, denen höhere Weihen zustehen – wie die goldene «Madonna» in der Tropfsteinhöhle.

Jost Auf der Maur, FACTS