Gesichter der Erde

Aus unendlich vielen Gesichtern schaut sie mich an ­ und in jedes einzelne bin ich verliebt

Davon haben wir alle einmal geträumt: dass wir Flügel anziehen und über die Erde fliegen. Wir möchten alles, was an Hindernissen vor uns steht – ob ein Gebirge oder ein wildes Tal – von oben sehen und überwinden können. Und bei unserem Flug fasziniert uns gerade die rohe, nackte Erde, wie wir sie sonst in Wüsten, den Küsten entlang oder im Hochgebirge erleben. Die meisten geologischen Gebilde auf der Erdoberfläche empfinden wir als schön, vor allem wenn sie vom Menschen unberührt sind. Die geologischen Formen auf der Erdoberfläche sind die Produkte von Abtrag (Erosion) oder Ablagerung (Sedimentation). Dazwischen gibt es Übergangsformen des Transports und der Umlagerung. Jedes Gebilde auf der Erdoberfläche ist eine lokale Jetzterscheinung im Kreislauf der Gesteine. Mit wenigen Ausnahmen ist das Transport- und Gestaltungsmedium das fliessende Wasser, abgesehen vom Wind, Gletschern und den Magmaflüssen aus dem Erdinnern.

Für viele von uns scheint die Erdoberfläche im Gleichgewicht zu sein; aber ein Menschenleben ist zu kurz, um Veränderungen wahrzunehmen, es sei denn, wir erleben die Auswirkungen eines besonderen Ereignisses, bei dem sehr viel Energie freigesetzt wird. Solche Vorkommnisse empfinden wir dann als Naturkatastrophen.

Die ausgedehnteste Struktur auf der Erdoberfläche ist die Meeresküste. Diese Kontaktstelle zwischen Festland und Meer ist geometrisch ausserordentlich vielfältig ausgebildet (1, 3, 5, 7, 9-11).

Hier werden die Wechselwirkungen zwischen globalen Meeresströmungen, Gezeiten, Salzgehalt und Temperatur des Meerwassers sichtbar (1, 5, 7). Der Rand des Festlands wird vom Wellenschlag bis auf wenige skurrile Formen abgetragen und in einen Sandstrand umgewandelt (1, 9). Gletscher sind klimaabhängige Erosions-, Transport- und Ablagerungssysteme mit einer ausgeprägten inneren Ordnung: zusammenfliessende Eisströme bleiben bis ans Gletscherende als selbständige Segmente erhalten und sind durch Mittelmoränen voneinander getrennt (2).

Dabei wird auch die mitgeführte Gesteinsfracht nicht vermischt. Gebirgsbildende Vorgänge deformieren Teile der Erdkruste. Dabei brechen die Strukturen auf, und je nach Härte der Schichten entstehen bei der nachträglichen Erosion die heute sichtbaren Formen der Gebirge (2, 4). Geologische Vorgänge wirken im Grossen und im Kleinen. Je nach Beobachtungsnähe und Blickwinkel erscheint ein dreidimensionales Filigran (6) oder ein feinverteiltes Muster von Rinnen (5), die auffallend hervortreten, wenn verschieden farbige Gesteinsschichten durchschnitten werden.

Massige Sandsteine und Granite bilden bei der Verwitterung durch Wind und Wasser «lebendige» Formen, dies vor allem, wenn sich an der Oberfläche harte, erosionsresistente Krusten bilden oder kleine Inhomogenitäten im Gestein vorhanden sind (8, 9, 10, 11). Tropfsteinhöhlen entstehen durch Lösung von Karbonat durch meteorisches Wasser. Die gelösten Substanzen werden auf dem Weg des Wassers stellenweise wieder ausgefällt als Tropfstein oder als feiner Überzug auf den benetzten Felswänden.

Was passiert mit der «Madonna» mit ihrem andächtigen Blick in die Zukunft - wird sie das dritte Jahrtausend überleben?

Prof. Christian Schlüchter Geologisches Institut, Universität Bern